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Dem Kernziel Lernqualität Vorfahrt gewähren

Christian M. StrackeMannheim/Wien, Oktober 2013 - (von Petra Jauch) Lerninnovation und Lernqualität werden oft getrennt voneinander betrachtet. Dabei seien beide Faktoren direkt miteinander verbunden, betont Christian M. Stracke. Angesichts der momentan rasanten technologischen Entwicklung gerate das Kernziel Lernqualität jedoch leicht aus dem Blickfeld, gibt der Experte von der Universität Duisburg-Essen zu bedenken, der sich unter anderem für die Entwicklung von Standards einsetzt.

Wie sich Lernqualität und Lerninnovation zueinander verhalten , um eine bestmögliche Qualität in Ausbildung und Training zu erzielen, erörtert der KeynoteSpeaker im Rahmen der Austrian eLearning Conference am 7. November in der Messe Wien. Im Vorfeld des vierten Fachkongress für eLearning, Wissensmanagement und Personalentwicklung zum Schwerpunkt Corporate eLearning beantwortete er folgende Fragen:

Herr Stracke, Sie sind Elected ISO-Convener of ISO/IEC JTC1 SC36/WG5, Elected Chair of CEN TC 353, sowie European and international Coordinator, HR, E-Learning, Quality and Competence Development an der University of Duisburg-Essen. Das klingt für Nicht-Insider sehr kompliziert. Was tun Sie genau – einfach gesagt?

Christian M. Stracke: Ich bin an der Universität Duisburg-Essen für die Koordination und Teamleitung unserer europäischen und internationalen Forschungs- und Entwicklungsprojekte zuständig. Wir haben dabei drei Schwerpunkte: E-Learning, Kompetenzmodellierung in der persönlichen Entwicklung und Qualitätsmanagement in der Aus- und Weiterbildung, was auch Evaluation und Impact Assessment, also die Messung des externen und nachhaltigen Einflusses, einschließt. Zu allen drei Themen fokussieren wir immer auch auf Innovationen und Standards, da sie wertvolle Instrumente und Hilfen darstellen. Dafür bin ich auch in der europäischen und internationalen Standardisierung aktiv und zwar sowohl bei der Entwicklung von Standards – zum Beispiel als Co-Editor des zukünftigen ISO-Kompetenzstandards ISO/IEC 20006 – als auch als gewählter Vorsitzender des offiziellen europäischen E-Learning-Standardisierungsgremiums CEN TC 353 und als gewählter ISO-Convener, also Leiter des offiziellen Standardisierungsgremiums SC36 WG5 für Qualitätsstandards in der Aus- und Weiterbildung.

Sie sagen voraus, die Zukunft des eLearning werde immer "offener". Damit verweisen Sie vermutlich nicht auf eine wachsende Ungewissheit, sondern eher auf den "Siegeszug" offener Lernkonzepte. Können Sie den Begriff §Offenes Lernen – Open Learning" kurz erläutern?

Christian M. Stracke: Völlig richtig, Offenes Lernen meint nicht die Ungewissheit, sondern neue Formen des Lernens. Dabei sind die Formen des Lernens beim Offenen Lernen gar nicht neu, sie werden bloß nicht flächendeckend eingesetzt und angewandt.

Offenes Lernen meint die Öffnung des Lernens und der Lernumgebung – und dies vor allem in der formalen Ausbildung in Schulen und Universitäten. Dort wird vielfach noch traditionell unterrichtet mit der klassischen Rolle des Lehrenden als dem Vermittler von Lehrinhalten. Beim Offenen Lernen ändern sich die Rollen und Aufgaben grundsätzlich: Es geht nicht darum, Inhalte zu vermitteln, sondern deren Entdeckung und Erarbeitung zu ermöglichen. Die Schülerinnen und Schüler können sich in kleinen Lerngruppen und mit Hilfe von vorbereiteten Umgebungen und Aufgabenstellungen selbstständig ein Thema erarbeiten, die Lehrenden übernehmen dabei die Rolle von Moderatoren und Tutoren, was für viele eine völlig neue Aufgabe darstellt.

Zudem müssen sie die Unterrichtseinheiten viel sorgfältiger vorbereiten, was anfangs zusätzliche Arbeit bedeutet. Dafür können sie aber auf Offene Lernmaterialen, sogenannte OERs, also Open Educational Resources, zurückgreifen, was den Aufwand deutlich reduziert. Das Ziel ist das gegenseitige Austauschen von solchen Lernmaterialien und von den Erfahrungen, die die Lehrenden damit gesammelt haben.

Auf europäischer Ebene ist Offenes Lernen gerade durch die neue Kommunikation der Europäischen Kommission "Opening Up Education" adressiert worden und wird zukünftig stark gefördert. Dazu gibt es auch die europäische Leitinitiative Open Discovery Space, die über 2.000 Schulen und 10.000 Lehrende in allen europäischen Ländern zusammenbringt und ein einzigartiges Portal für die Zusammenarbeit online und den Austausch von offenen Lernmaterialien zur Verfügung stellt.

Durch Offenes Lernen gewinnen vor allem die SchülerInnen neue Möglichkeiten des selbstentdeckenden Lernens im Austausch und der Zusammenarbeit mit ihren KlassenkameradInnen, aber auch über Schul- und Landesgrenzen hinweg, da vielfach online gesucht, erforscht und gearbeitet wird. Offenes Lernen verdrängt wohlgemerkt nicht den Frontalunterricht, sondern reichert den Unterricht in Schulen und Universitäten an. Dies steigert die Motivation und Lernbegeisterung der Schülerinnen und Schüler und nutzt damit langfristig nicht nur den Lehrenden, sondern der ganzen Gesellschaft, da wesentlich intensivere und nachhaltigere Lernprozesse gestartet werden, die besser auf das Arbeitsleben und die Gesellschaft vorbereiten.

Lerninnovation und Lernqualität sollten ihrer Ansicht nach zusammen betrachtet werden. Ist die Lernqualität angesichts der schnellen technologischen Entwicklungen etwa aus den Augen geraten?

Christian M. Stracke: In der Tat ist dies eine Gefahr, die ich schon vor vielen Jahren gesehen habe und die immer noch besteht. Wir haben daher schon früh angefangen, internationale Qualitätsstandards für die Aus- und Weiterbildung zu entwickeln, um die Verbesserung der Lernqualität zu fokussieren und zu unterstützen. Ein Meilenstein war der erste internationale ISO-Qualitätsstandard für die Aus- und Weiterbildung ISO/IEC 19796-1, der schon im Jahr 2005 auf Basis der deutschen Spezifikation PAS 1032-1 entwickelt, verabschiedet und schließlich von der ISO, der einzigen offiziellen internationalen Standardisierungsorganisation, veröffentlicht wurde.

Um die notwendige Diskussion um die Lernqualität zu eröffnen und in die Breite zu tragen, haben wir die jährliche LINQ-Konferenz ins Leben gerufen. Die Abkürzung für "Learning Innovations and Learning Quality" steht für die Kombination und Verknüpfung von Lerninnovationen und Lernqualität. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine ausgewogene Balance zwischen Lerninnovationen und Lernqualität gefunden werden muss, damit langfristig die Qualität in der Aus- und Weiterbildung gesteigert werden kann. Dabei räume ich immer noch der Lernqualität die Priorität ein, der sich Lerninnovationen unterordnen müssen.

Wir können viel von technologischen Innovationen profitieren, aber sie müssen eingebettet sein in ein umfassendes Konzept, da jede Situation, jede Zielgruppe und jedes Lernziel sich anders gestalten. Dabei dürfen wir nicht die Ergebnisse aus langjährigen Lehr- und Lernerfahrungen vernachlässigen, um die jeweils beste Aus- und Weiterbildung zu erzielen. Der Erfolg der jährlichen LINQ-Konferenz mit mehreren hundert Teilnehmern aus vier Kontinenten zeigt, wie wichtig auch von Lehrenden diese Verknüpfung von Lerninnovationen und Lernqualität sowie der Austausch und die ausführliche Diskussion dazu eingeschätzt werden.

Wird es mit Hilfe der neuen Lerntechnologien leichter oder schwerer, Bildung zu erwerben?

Christian M. Stracke: Es wird definitiv leichter, mit Hilfe von neuen Lerntechnologien Bildung zu erwerben, wenn diese neuen Lerntechnologien richtig und sinnvoll eingesetzt werden. Dazu zählt vor allem, wie schon vorhin erwähnt, deren Integration in ein Lernkonzept, das sich an der Situation, der Zielgruppe und der Lernziele orientiert. Dann können neue Lerntechnologien neue Lernmöglichkeiten bieten, die Aus- und Weiterbildung erleichtern. Natürlich dürfen sie nicht zum Hindernis werden und dabei müssen auch die für sie benötigten digitalen Kompetenzen berücksichtigt sein. Dies unterstreicht aber nur die Notwendigkeit für eine umso sorgfältigere Planung.

Auch die Lehrenden fallen nicht etwa weg, sondern sind, ganz im Gegenteil, immer gefragter. Der Arbeitskreis Learning Solutions im deutschen BITKOM-Verband hat aktuell ein Positionspapier veröffentlicht, in dem die Möglichkeiten der neuen Lerntechnologien beleuchtet werden. Insgesamt lässt sich sagen, dass neue Lerntechnologien die Bildung bereichern und neue Formen ermöglichen, was ich auch immer in meinen virtuellen Lehrveranstaltungen als Adjunct Professor an der KNOU, der Korean National Open University, feststellen kann.

Welche Lernformate bevorzugen Sie persönlich?

Christian M. Stracke: Ich bevorzuge persönliche Diskussionen zu zweit oder in kleinen Gruppen, da ich sehr viel reise und nur bedingt an formalen Bildungsveranstaltungen teilnehmen kann. Dabei helfen die neuen Lerntechnologien natürlich enorm, wenn ich mich von beliebigen Orten aus in Online-Meetings einwählen kann.

Ein ganz kurzer Ausblick: Was kommt nach Open Learning?

Christian M. Stracke: Für mich ist Open Learning das langfristige Ziel einer grundlegenden und nachhaltigen Veränderung von Aus- und Weiterbildung insgesamt. Danach kann eigentlich nichts mehr kommen, denn es sollte nicht abgelöst, sondern bestenfalls nur angereichert werden.

Doch zunächst muss Open Learning erst einmal ermöglicht werden. Zu diesem Zweck haben wir die internationale Initiative ICORE gegründet: ICORE steht für International Council for Open Research and Open Education und bringt alle interessierten Organisationen, Experten und Interessenten zusammen, um die Verbindung von Open Research, also Offener Forschung, und Open Education, also Offenen Lernens, zu unterstützen und zu verbessern. Die Aus- und Weiterbildung kann noch sehr viel von den kostenlosen Ergebnissen des Open Research profitieren, um sie im Offenen Lernen einzusetzen. Wir hoffen, dass noch viele Organisationen und Einzelpersonen ICORE kostenfrei beitreten und dass ICORE als weltweite Initiative hilft, Offenes Lernen zu etablieren und zu verbreiten.

Vortragstermin auf der Austrian eLearning Conference:
Keynote-Vortrag "The future of eLearning - Open Learning and beyond"
Donnerstag, 7. November 2013, 9.30 bis 10.15 Uhr, Halle C, Messe Wien