Veränderung gestalten

ELearning stärkt das informelle Lernen

Erlangen, Oktober 2008 - (von Bettina Deininger) ELearning ist einer der Forschungsbereiche des ILI (FIM) Institut für Lern-Innovation der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dr.Walter F. Kugemann, Leiter seit der Gründung 1976, zieht im Gespräch mit CHECK.point eLearning Bilanz und gibt Ausblicke auf seine Sicht der Zukunft des Lernens. Derzeit läuft das Auswahlverfahren für seine Nachfolge, die ab Juni kommenden Jahres neu geregelt sein wird.




Welche Entwicklung drückt sich in der Umbenennung von FIM NeuesLernen zu ILI (FIM) Institut für Lern-Innovation aus?

Dr. Walter F. Kugemann: Der "Länderversuch FIM" (Fernstudium im Medienverbund) ging 1976 hervor aus einem Staatsvertrag, den die Länder als Antwort auf die Fernuniversität Hagen beschlossen, die der damalige nordrhein-westfälische Minister für Wissenschaft und Forschung Johannes Rau im Alleingang gegründet hatte. Angesiedelt an der Fakultät für Psychologie entwickelte sich das FIM-Projekt "Psychologie" weiter zu FIM Neues Lernen.

Mit der tiefgreifenden Umstrukturierung unserer Universität Erlangen-Nürnberg zum 1.10.2007, die ein stärkeres Gleichgewicht zwischen den Fakultäten anstrebte, erhielt das FIM endlich Institutsstatus und wurde der Philosophischen Fakultät unter dem neuen Namen ILI (FIM) Institut für Lern-Innovation zugeordnet.

Nach 32 Jahren erkannte die Universität damit an, dass ein nicht-technisches, nicht-naturwissenschaftliches und nicht-medizinisches Fach eine wichtige Forschungslinie für die Zukunft unserer Gesellschaft aufgebaut hatte. Außerdem wird ILI (FIM) als Drittmittelmotor für die neue Philosophische Fakultät arbeiten, denn wir finanzieren uns zu 90 % aus Drittmitteln und haben etwa so viele EU-Bildungsforschungsprojekte wie der Rest Bayerns zusammen.

Welche Einflüsse auf das Lernen - aus technologischer, demographischer, gesellschaftlicher Sicht - waren am stärksten?

Dr. Walter F. Kugemann: Ausgehend vom Bildungsszenario bei unserer Gründung 1976 hat sich viel verändert: Es gab kein Internet, keinen PC, keinen Satelliten, wenige Fernsehkanäle, kein Kabel, kein Mobiltelefon, kein Navi. Es bestand ein Bildungsgefälle zwischen Männern und Frauen, die Abiturquote lag bei nur 20 %, und nur wenige hatten einen Hochschulabschluss.

Den Begriff des "lebenslangen Lernens" gab es nicht. Berufliche Weiterbildung konzentrierte sich auf forschende Firmen wie IBM oder Siemens. Doch ist die Entwicklung aus der deutschen Perspektive langsamer als auf internationaler Ebene: Viele Industrieländer haben heute eine Hochschul-Abschlussquote von 50%, Neuseeland sogar von über 70%.

Aus technischer Sicht war die digitale Integration die wichtigste Veränderung, als Leitentwicklung das Internet. FIM brachte 1987 im Zuge des EU-Projekts DELTA den vermutlich ersten digitalen Newsletter weltweit heraus. 1993 schufen wir den ersten Internetzugang für alle Bürger in Zentraleuropa drei Monate nach Helsinki.

Auf dieser Basis wurde das Konzept von "Bayern online" entwickelt, weshalb in unserer Region das Internet bis heute noch etwas besser verbreitet ist als anderswo. Vor elf Jahren ging das "SeniorenNetz Erlangen" online, ein Konzept, das die Teilnehmer nicht nur bestärkt, mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten, sondern sie für ihre Zwecke zu nutzen und zu formen.

Die demographische Perspektive hat gezeigt, dass man sich beim Lernen nicht auf eine bestimmte Altersgruppe beschränken sollte. Man darf sich nicht an Bildungsinstitutionen orientieren, sondern an den Menschen. Deshalb muss man Lernkompetenz auf die ganze Lebensspanne ausdehnen.

Das Konzept des "kompetenten Lerners", das sich im Ansatz schon in meinem Buch "Kopfarbeit mit Köpfchen" 1966 findet, ist heute zum "kompetenten Bürger" erweitert. Wie z.B. der Begriff der "Entrepreneurship" verdeutlicht, wird Lernen verstärkt mit gesellschaftlichen Werten verbunden.

Wir beobachten zwei gegenläufige Prozesse: Zum einen blicken wir heute auf ein längeres, aktives Leben, zum anderen verkürzen sich die Wissenszyklen. Früher lernte eine Gesellschaft von einer Generation zu anderen. Jetzt hat die Forderung nach lebenslangem Lernen eine klare demographische Begründung.

Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus ist Lernen heute ein zentraler Punkt in der Verteilung der Lebenschancen. Der Begriff des "digital divide" beschreibt die Gefahr der gesellschaftlichen Spaltung aufgrund von technischer Teilhabe oder Ausschluss. Die Riga-Erklärung der EU zur Kommunikations- und Informationstechnologie von 2006 spricht von "social inclusion" und "e-inclusion" in einem Atemzug und fordert, Lernprozesse so zu gestalten, dass sie allen offen stehen und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.

Die PISA-Studie zeigte in Deutschland, das Schule hier das Gegenteil von "social inclusion" bewirkt, ja sie ist eine soziale Sortiermaschine. Chancen, damit auch fehlende, werden hierzulande "vererbt". Die Aufgabe, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, verstärkt sich zunehmend.

Welche Ihrer Forschungs- und Entwicklungsprojekte haben für Sie herausragende Bedeutung?

Dr. Walter F. Kugemann: Aus den 30 Projekten, die derzeit bei ILI (FIM) laufen, möchte ich drei Aspekte herausgreifen, die ich für besonders wichtig halte:

Lebenslanges Lernen gelingt, wenn man informelles Lernen (einschließlich unbewusstem, ungeplantem Lernen durch Erfahrungen) und formelles Lernen (curriculares Lernen in Schule, Ausbildung, Kursen) stärker aneinander bindet und Synergien schafft. Dieses Thema ist besonders wichtig im Hinblick auf die Schulzeit.


Wenn die Lernformen auseinanderdriften, kommt es wie hier in Deutschland zu einer hohen Quote von Schulabbrüchen und einem massiven Anwachsen des nicht-staatlichen Schulsystems. Man darf sich eben nicht gegen die Lerneinflüsse der Kinder stellen, sondern sollte fördern, dass sie situativ erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten in produktiver Weise anwenden können. Durch die Zertifizierung solcher Kompetenzen kann man am stärksten lebenslanges Lernen fördern.

Den zweiten Aspekt, den des kompetenten Lerners, habe ich oben bereits erläutert.

Als drittes möchte ich die Ablösung des physikalischen Laborexperiments als wissenschaftliche Leit-Methode des 19. Jahrhunderts durch "evidence based research" nennen. Das Laborexperiment war nie geeignet für Forschung, in deren Mittelpunkt Menschen in lebensrelevanten Veränderungen stehen. Hier geht es um die Frage, wie man lebensrelevante Anhaltspunkte finden, messen und beurteilen kann.

Anhand von Indikatoren (z.B. Weiterbildungsverhalten und -wünsche von Lehrern) betrachtet man eine komplexe Situation (z.B. deutsche Schulen im Vergleich mit anderen Ländern) und erhält so ein Bild von den Bedingungen der Realität. Wir verfolgen viele Projekte, die sich mit Indikatoren beschäftigen. In einem Dreischritt kann man das Arbeiten mit Indikatoren beschreiben: "Benchmarking" bedeutet Vergleichen und Beschreiben mit Indikatoren. "Benchlearning" ermöglicht Einsicht in die Prozesse, "Benchaction" erlaubt der Politik oder anderen Entscheidern, Entscheidungen an klaren Zielen zu orientieren und deren Erreichen auch zu überprüfen.

Ist mediengestütztes Lernen heute selbstverständlich oder wird es nach wie vor für punktuelle Projekte eingesetzt?

Dr. Walter F. Kugemann: Statt von "mediengestützt" möchte ich lieber von "technical enhanced learning" sprechen. Ich bin der Überzeugung, wir sollten statt von "eLearning" nur noch von "Learning" sprechen. Denn heute haben alle Lernprozesse eine e-Komponente. Schüler schreiben ihre Referate am PC mit Rechtschreibprogramm. Statt im Lexikon schaut man bei wikipedia oder leo nach. In VHS-Sprachkursen kommuniziert man per email und hört sich zur Übung eine Sendung im Internet an. Eine Auftrennung mit oder ohne "e" ist also nicht mehr sinnvoll.

Wie schnell verläuft die Umsetzung von Forschungserkenntnissen zu innovativen Lerntechnologien in die Breitenwirkung?

Dr. Walter F. Kugemann: Zu langsam. Was man im Englischen mit dem Bild "the mechanisation of the horse" beschreibt, heißt: Alte Metaphern mit neuen Technologien weiterzuführen ist falsch. Dies wird deutlich durch den Vergleich von ins Internetzeitalter übernommenen Konzepten des Klassenzimmers mit Frontalunterricht mit der "Open Classroom"-Bewegung z.B. in Skandinavien: Die neue Lehrergeneration wird bald "digital native" sein. Sie weiß, dass man nicht mit Google und wikipedia konkurrieren muss, sondern solche Werkzeuge zu neuen Formen der Lernorientierung nutzen kann.

Als Mathematiklehrer führt man keinen Beweis mehr an der Tafel, sondern alle Schüler, ausgestattet mit Laptop und W-Lan, recherchieren zum Thema im Internet. Die neue Aufgabe des Lehrers besteht nicht mehr in der Vermittlung von enzyklopädischem Wissen, sondern in der Erarbeitung von Kompetenzen, Informationen zu bewerten.

Aber Institutionen und die Kultur des Lernens zu verändern dauert lange, denn hier sind Werte, Traditionen und Identitäten fest miteinander verbunden. Unser Ziel muss es sein, zu einem am Individuum und seinen Bedürfnissen orientierten Lernen zu kommen. Nicht die Noten und Diplome sollten zählen, sondern die persönliche Qualifikation eines Menschen.

Hat eLearning das Bewusstsein für den Methodeneinsatz und die Qualitätssicherung beim Lernen geschärft?

Dr. Walter F. Kugemann: Ja, dies ist eine der wichtigsten Entwicklungen. Digitale Technologien haben den Nebeneffekt, dass sie dokumentieren und Prozesse transparent machen. Das ist die Vorbedingung für Qualitätssicherung. Um die Frage der Qualität zu klären, brauchen Teams und Kooperationen transparente Konsensprozesse.

Eine stärkere Rollendifferenzierung vermittelt dem Lerner größeres Selbstbewusstsein. Er sieht sein Lernen und seine Wahlmöglichkeiten im Mittelpunkt. Dies verdeutlicht z.B. das Konzept des "learner generated content": Z. B. erarbeiten sich Lernergruppen selbst ihre Lernmaterialien, die sich enger an ihren Bedürfnissen orientieren als "Fachtexte".

Dies reduziert zugleich die Bedeutung von Institutionen. Immer mehr Studierende suchen sich die passende Universität zu ihren Schwerpunkten, statt sie sich von einem Professor vorgeben zu lassen. Diese Form von virtueller Mobilität nimmt zu.

In welcher Lebens- und Lernphase wird eLearning heute und in Zukunft eingesetzt?

Dr. Walter F. Kugemann: In allen. Ob dies die 93-jährige Frau ist, die anhand von gescannten Fotos am Computer einen Lebensblog schreibt, oder ein 3,5-jähriger Junge, der mit dem Mobiltelefon den Notarzt alarmiert, um seine Mutter zu retten - diese Beispiele zeigen, dass es lebensnotwendig ist, mit Technologie um gehen zu können.

Sie hat keine altersdiskriminierenden Eigenschaften, die Gesellschaft muss sich nur darauf einstellen, von der Wiege bis zur Bahre Lernprozesse zu durchlaufen. Technologie ermöglicht dieses informelle Lernen. Wenn Bildung erst mit sechs Jahren beginnt, geht zuviel Potenzial verloren.

Das technische Umfeld im Lernprozess wird zunehmend komplexer, die Zielgruppe erweitert sich auf Kinder und Senioren. Wie kann das zusammenpassen?

Dr. Walter F. Kugemann: Auch die Selbstverständlichkeit, mit Technik umzugehen, wird komplexer. Die "digital natives" haben dazu ein anderes Verhältnis. Darum stellt sich nicht mehr die Frage der Komplexität. Kinder können die Maus bedienen. Sie haben einen experimentierenden, keinen systematischen Umgang damit. Ein Student liest heute kein Software-Handbuch mehr, er probiert einfach aus.

Zentral ist hier der Begriff des Transgenerationen-Lernens: Über Altersgruppen hinweg zu lernen, beinhaltet ein großes Potential. Alle haben eine Rolle, die Altersklassen driften nicht auseinander. Diese Form des informellen Lernen macht Politikern vielleicht Angst, weil es enorme Ressourcen in der Gesellschaft freisetzt, über die sie keine Kontrolle haben: z.B. Business Angels oder Schüler, die ihren Lehrern den Computer erklären. Hier muss man kein Geld investieren, sondern Möglichkeiten schaffen. Dies ist ein großer Wandel für Politik und Gesellschaft.

Welche zukünftigen Lerninnovationen sind heute bereits absehbar?

Dr. Walter F. Kugemann: Das in der e-Euphorie der späten 90er Jahren prognostizierte "digitale Klassenzimmer" ist - glücklicherweise - nicht eingetreten. Aber Lernen ist vielfältiger und personenbezogener geworden. Lernen ist immer noch der stärkste Motor für Innovationsprozesse, für ihre Beschleunigung und ihre Ausrichtung.

Bildung wird in Deutschland noch immer zu sehr auf die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit reduziert. Man muss durch den Lernprozess die Beteiligung aller an Innovationen sicherstellen. 2009 ist das "Europäische Jahr der Kreativität und Innovation". Innovation ist in einer Gesellschaft nur dann vernünftig zu nutzen, wenn alle Beteiligten die Chance erhalten, zu ihr beizutragen und damit die Orientierung an ihren Bedürfnissen einzufordern.

Lernen wir heute länger, lieber, effizienter?

Dr. Walter F. Kugemann: Wir leben länger, also lernen wir auch länger. Vieles wandelt sich schneller, also müssen wir auch schneller lernen. Wir haben nicht die Wahl, es ist eine Anforderung. Vor 30 Jahren gab es noch Berufe, die sich lange nicht verändert hatten, z.B. in einer Apotheke. Doch ohne elektronische Lagerhaltung, Bestellung und Abrechung ist diese Tätigkeit heute nicht mehr vorstellbar. Diese Entwicklung steht exemplarisch für unsere Gesellschaft.

Ich meine, dass wir auch lieber lernen, denn informelles Lernen wird heute anerkannt und gefördert. Ein kleines Beispiel dafür ist Googlemaps mit der Möglichkeit, sein Haus selbst dreidimensional zu modellieren und für alle im Internet sichtbar zu machen, was Tausende Menschen tun. Tätigkeiten, bei denen man Identität spürt, übt man lieber aus, zumal in einer unübersichtlich großen Welt.

Wir lernen heute effizienter im Sinne von wissenschaftlicher. Es geht nicht mehr den Erwerb von enzyklopädischem Inhaltswissen, das man abruft wie anwendbare Rezepte in Form von "Man nehme…". Heute müssen wir Strukturkompetenz erwerben, die man in sozialer Interaktion durch das Abwägen von Alternativen erlangt.

Außerdem sollten wir Lernen auf allen Ebenen betrachten: als Individuum, in der Gruppe und auf gesellschaftlicher Ebene. Dann erhält man die Chance, die Verbindungen zu sehen und Veränderungen herbeizuführen.

So haben Studien in England ergeben, dass medizinische Kunstfehler, auf die doppelt so viele Todesfälle wie durch Verkehrsunfälle zurückgehen, zu 15% auf individuelle Kompetenzmängel und zu 85% auf Fehler in der Kommunikation des Teams zurückzuführen sind. Die Medizinerausbildung wurde daraufhin umgestellt.

Unsere Ausbildung konzentriert sich häufig zu stark auf das Lernen des Individuums, denn Lernen hängt auf allen Ebenen miteinander zusammen. Aber ohne Verbindung mit lernenden Gruppen und einer lernenden Gesellschaft ist Lernen in der Gefahr der Irrelevanz. Und damit stiege die Gefahr, dass eine Gesellschaft "verdummt" und Veränderungen nicht mehr angemessen mitgestalten könnte.