Wie mit Oma lernen

Was Konversation und informelles Lernen ausmachen

Jay Cross München, Januar 2008 - Besser informieren, besser ausbilden, individuelle Unterstützung bieten und die Wettbewerbsfähigkeit steigern. Die Erwartungen, die Unternehmen an die Mitarbeiterförderung und -weiterbildung stellen, sind enorm. Dabei sind zwei unterschiedliche Methoden auszumachen: Neben dem formellen eLearning, also der traditionellen, wenn auch virtuellen, Klassenzimmer-Umgebung ist eine zunehmende Ausrichtung auf informelles Lernen zu beobachten.

Zu letzt genanntem zählen Blogs, Podcasts, Simulationen, Serious Games, virtuelle Labore, Flash Applikationen und interaktive Grafiken.


Jay Cross, Autor des Buches "Informal Learning: Rediscovering the Natural Pathways that Inspire Innovation and Performance", sieht zahlreiche Vorteile durch den Einsatz informeller Lerntechniken.


Woher kommt Ihr Interesse an informellem Lernen?

Jay Cross: Aufmerksam wurde ich, als mir klar wurde, dass die meisten Lernprozesse informeller Natur sind. Formelles Lernen allein reicht nicht mehr aus, um den gestiegenen Anforderungen des Arbeitslebens gerecht zu werden. Herkömmliche Kurse halten mit dem Tempo beispielsweise neuer Produkt Roll-outs nicht mehr Schritt.

Mitarbeiter haben keine Zeit mehr für ineffiziente, angestaubte Trainingsmethoden. Sie müssen zu Mitwirkenden im Lernprozess werden und ihre Rolle als passiver Empfänger hinter sich lassen.

Worin unterscheiden sich die beiden Methoden?

Jay Cross: Formelles und informelles Lernen sind natürlich beides mögliche Wege, zu lernen. Beide errichten neue neurale Verbindungen im Gehirn und adaptieren neue Gegebenheiten. Man könnte sagen: sie ko-existieren.

Formelles Lernen ist nützlich, um eine Gruppe mit gleichen Bedürfnissen zu schulen. Berufsanfänger in technischen Berufen gehören zum Beispiel dazu. Informelles Lernen dagegen ist die Art und Weise, wie Menschen schon von je her gelernt haben: durch beobachten, ausprobieren und zuhören - beispielsweise den Geschichten, die die Großmutter erzählt hat. Meiner Meinung gehören zu informellem Lernen keine Lehrpläne, Lernstufen oder Zeugnisse. Oftmals passiert es aus dem Stegreif, spontan und ist nicht geplant.

Während formelles Lernen adäquat für Berufsanfänger ist, eignet sich informelles Lernen ausgezeichnet für Menschen, die bereits Erfahrungen in ihrem Gebiet gesammelt haben. Sie benötigen kein Basiswissen mehr, sie suchen vielmehr Wissen, das ihnen bei einer konkreten Fragestellung hilft.

Wie kommen diese Methoden in Unternehmen zum Einsatz?

Jay Cross: Unternehmen nutzen informelles Lernen hauptsächlich im Bereich der Mitarbeiterentwicklung. Es ist ja ein normales menschliches Verhalten. Denn Mitarbeiter lernen bedeutend mehr voneinander als von formellen Programmen. Ein vorausschauendes Unternehmen kann davon ungemein profitieren.

Konversation ist die bedeutendste, lehrreichste Technologie, die wir besitzen. Jeder lernt besser und intensiver, wenn er sich mit den richtigen Leuten austauscht. Bis jetzt haben allerdings die wenigsten Firmen eine effiziente Vernetzung bei der Frage 'Wer kann bei welchem Problem weiterhelfen?'. Denn was machen die meisten Mitarbeiter, wenn sie eine Frage haben? Sie wenden sich an den nächst besten Kollegen. Aber wie groß ist die Chance, dass er die richtige Antwort kennt? Deshalb bleiben viele Fragen unbeantwortet oder werden sogar falsch beantwortet. Diese Situation ist leider alltäglich.

Welche Technologien sind für informelles Lernen relevant?

Jay Cross: Zusammenarbeit ist unerlässlich. Gemeinsam an Dokumenten zu arbeiten, hilft dabei zu verstehen, wie die anderen denken. Darüber hinaus entsteht ein gemeinsames Ergebnis, in dem sich jeder wieder finden kann. Man kann das mit einem Wiki erreichen, aber auch mit Adobe Contribute. Einmal angewendet, will man es nicht mehr missen.

Technologien, die bei der Zusammenarbeit helfen, schwemmen den Ballast des traditionellen Lernens weg. Früher lernte man Sprachen rein theoretisch - mit einem Buch und Frontalunterricht. Es ging leider nicht darum, Dinge so zu lehren, damit man sie später wie gewünscht einsetzen konnte.

Als ich in einem Workshop informelles Lernen im Web, eine neue Applikation und Widgets demonstrieren wollte, setzte ich einfach Adobe Captivate ein. Damit zeichnete ich schnell einen Screencast auf - was nicht länger dauerte, als es einer Person zu erklären - und bingo! Ich habe den Leuten in weniger als drei Minuten erklärt, wie man einen Blog erstellt.

Worin liegt der konkrete Nutzen für jeden Einzelnen und für das gesamte Unternehmen, wenn auf informelles Lernen gesetzt wird?

Jay Cross: Der Nutzen liegt in der Profitabilität für das Unternehmen und in der Zufriedenheit für den Einzelnen. Informelles Lernen ist eine Strategie für Unternehmen, die eine langfristige Vision und einen ebensolchen Nutzen verfolgen. Die Amortisation ist enorm, aber es ist unmöglich, exakt nachzuvollziehen, was aus dem jeweiligen Zusammenspiel hervorgegangen ist.

Sehen Sie im informellen Lernen nur eine andere Form des persönlichen Lernens?

Jay Cross: Wissen gründet in der Wechselwirkung von dem, was in unseren Köpfen ist, von unserem Weltbild und allem, was um uns herum existiert. Alles ist miteinander verbunden. Lernen ist etwas zutiefst menschliches. Ich würde es nicht mit irgendwelchen Kriterien beschränken wollen.

Noch vor hundert Jahren wurde Mitarbeitern gesagt: "Du wirst nicht fürs Denken bezahlt!" Heute werden sie genau dafür eingestellt. Sie übernehmen die Verantwortung für Entscheidungen, für die Zusammenarbeit mit Kunden, improvisieren Lösungen und teilen ihre Zeit produktiv ein. Jemanden eine persönliche Lernumgebung einzurichten dauert nicht lange. Aber es zahlt sich nachhaltig aus.