Uni Heidelberg

Virtuelle Patienten als ideale praxisnahe Vorbereitung

Heidelberg, Juni 2009 - Nach hervorragenden Ergebnissen in der Kinder- und Jugendmedizin arbeitet die Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg mit Hochdruck am Ausbau ihres Projekts des fallbasierten Lernens mit virtuellen Patienten. Jedes Jahr sollen zwei weitere medizinische Fachbereiche hinzukommen. CHECK.point eLearning fragte Dr. med. Sören Huwendiek (MME, Bern), Leiter des Zentrums für virtuelle Patienten, welche Herausforderung dies für die medizinische Fakultät bedeutet.




Welche Beweggründe gibt es für den Einsatz von virtuellen Patienten?

Sören Huwendiek: In einem modernen Krankenhausbetrieb sinkt die Verweildauer der Patienten, so dass für einen direkten Patientenunterricht immer weniger Patienten zur Verfügung stehen. Zudem kann bei saisonalen Erkrankungen ein Unterricht durch direkten Patientenkontakt nicht gewährleistet werden. Weiterhin betreuen Studenten im Praxiseinsatz selten Patienten von der Aufnahme bis zur Entlassung oder sind in alle wichtigen Entscheidungsschritte der klinischen Betreuung einbezogen. Auch können Studierenden schwere Notfälle wie eine Hirnhautentzündung selten erleben, - da sie insgesamt selten vorkommen, - und in Realität natürlich nicht selbst betreuen.

Mithilfe der interaktiven, realitätsnahen, computerbasierten Simulation der Patientenbetreuung können die Studierenden sich auf die Auseinandersetzung mit dem realen Patienten viel besser vorbereiten. Virtuelle Patienten sollen dabei den Kontakt zu realen Patienten keinesfalls ersetzen, sondern dienen als ideale praxisnahe Vorbereitung.

An der Universität Heidelberg setzen wir virtuelle Patienten in der Pädiatrie bereits seit 1999 ein, in Prüfungen seit 2005. Seit Sommer 2008 arbeiten Studierende auch in den vorklinischen Fächer Biochemie, Physiologie und Anatomie/Zellbiologie mit einfachen Fällen.

Vor allem ermöglicht die Simulation, das so genannte "Clinical Reasoning", auf Deutsch am ehesten "klinisches" oder "differentialdiagnostisches Denken", nachzuvollziehen. Ärztliche Experten, die über eine Menge Erfahrungswissen verfügen, diagnostizieren häufig aus dem Bauch, weil sie eben durch ihre lange Erfahrung eine Reihe von Mustern abrufbar im Kopf haben. Aus diesem Wissen ziehen sie bei bestimmten Indikatoren die richtige Lösung heraus. Virtuelle Patienten machen diese entscheidenden differentialdiagnostischen Schritte transparent und nachvollziehbar.

Durch virtuelle Patienten lernen die Studierenden Denk-, Handlungs- und Entscheidungsprozesse nachzuvollziehen, die klinisch tätige Personen, wie Ärzte und Pflegepersonal treffen müssen.

Nun weiten Sie das Projekt von der Kinder- und Jugendmedizin auf die Fachbereiche Kinder- und Jugendpsychiatrie, Neurologie, Chirurgie und Gynäkologie aus?

Sören Huwendiek: In den vergangenen Jahren haben wir mit virtuellen Patienten in der Kinder- und Jugendmedizin sehr positive Erfahrungen gemacht. Am Ende des Pädiatrie-Moduls gaben Studierende immer wieder an, dass sie ihr Wissen aktiv anwenden konnten, um wirkliche Patienten erfolgreich diagnostizieren und behandeln zu können. Die Teilnehmer von Fokusgruppen fühlten sich hervorragend auf die Praxis vorbereitet und wünschten sich ausdrücklich den Einsatz virtueller Patienten in allen Fachbereichen inklusive der vorklinischen Fachbereiche.

Dem Wunsch der Studierenden folgend setzt das Zentrum für virtuelle Patienten nun sukzessive das Ziel um, virtuelle Patienten jedes Jahr in zwei weiteren Fachbereichen zu implementieren. Unterstützt wird dieses Projekt durch Studiengebühren. Letztes Jahr gingen die vorklinischen Fächer Zellbiologie und Biochemie und die Kinder- und Jugendpsychiatrie an den Start. Dieses Jahr folgen die Neurologie, Chirurgie und Gynäkologie. Dabei wird jeweils mindestens jeweils ein virtueller Patient pro Unterrichtswoche erstellt.

Für das nächste Jahr sollen Mittel für die Erstellung von Fällen in der Notfallmedizin und Allgemeinmedizin beantragt werden.

Wichtig sind virtuelle Patienten auch bereits in der Vorklinik, wenn es darum geht Basiswissen zu erwerben. Man kann die Studierenden nicht früh genug an die praxisnahe Diagnostizierung heranführen. In der Vorklinik setzen wir beispielsweise Fälle über Störungen des Säure-/Basenhaushalts ein, die später in der Klinik vertieft werden.

Welche Herausforderungen mussten Sie bei der Expansion des Projektes überwinden?

Sören Huwendiek: Der Entwicklung der virtuellen Patienten ist ziemlich zeitintensiv, da wir die Denkprozesse eines erfahrenen Arztes transparent machen und dies in engem Kontakt mit Fachexperten erfolgen muss. Weiterhin leben die virtuellen Patienten vom Einsatz von Medien wie Videos von Patienten, die recht aufwändig in der Herstellung sind.

Außerdem ist es mit der Erstellung der virtuellen Patienten alleine nicht getan. Die Fälle werden auch sinnvoll auf das bestehende Curriculum abgestimmt und fest integriert. Die Themen der virtuellen Patienten sind dabei auch jeweils prüfungsrelevant und Kurzfälle der virtuellen Patienten werden in den regulären Prüfungen eingesetzt.

Für die Erweiterung des Projekts war es daher notwendig, neue Gelder zu akquirieren. Wir sind den Mitgliedern der Studiengebührenkommission, die in der Mehrheit aus Studierenden besteht sehr dankbar, dass diese großes Vertrauen in uns setzt und uns finanziell so sehr unterstützt.

Zu den Aufgaben der ärztlichen Mitarbeiter gehört vor allem die Fallerstellung. Das bedeutet jedoch in erster Linie Koordination, denn die Software ist einfach zu handhaben. Es gilt, das Muster hinter dem Erfahrungswissen älterer Ärzte transparent zu machen und für eine systematische Vorgehensweise bei der Untersuchung zu einem nachvollziehbaren Prozess zusammenzuführen.

Wie aufwändig ist die Produktion der Fälle?

Sören Huwendiek: Der Arbeitseinsatz hängt von der Komplexität des jeweiligen Falles ab. Einfache Fälle können mithilfe der CAMPUS-Software in vier bis fünf Stunden zusammengestellt werden. Bei Fällen, die aufwändig mit Videos und anderen multimedialen Medien ausgestattet sind, und auch das klinische Denken entsprechend veranschaulichen dauert die Entwicklung gut und gerne 40 bis 100 Stunden.

Die Arbeit steckt dabei nicht unbedingt in der technischen und multimedialen Aufbereitung, obwohl Videos immer Zeit kosten. Doch der Hauptteil der Arbeit fließt in das oben bereits erwähnte Clinical Reasoning. Es ist für Außenstehende oft sehr schwierig nachzuvollziehen, wie ein Arzt zu einer bestimmten Diagnose kommt. Welche Krankheiten schließt er aus welchen Gründen aus? Welche Erfahrungsmuster kommen zum Tragen? Wie kann man diesen Prozess transparent und nachvollziehbar gestalten?

In der Pädiatrie, wo wir die meisten Erfahrungen haben, existieren zurzeit bereits 60 Fälle. Das ist eine große Anzahl. In den gerade gestarteten Fachbereichen wollen wir in der Lage sein, den Studierenden mindestens einen Fall pro Woche anzubieten.

Mit welchen Partnern arbeiten Sie diesbezüglich zusammen?

Sören Huwendiek: Gerade weil die Entwicklung der Fälle so kostenintensiv ist, suchen wir die Zusammenarbeit mit Partneruniversitäten und internationalen Projekten. Das Zentrum für Virtuelle Patienten kooperiert beispielsweise mit dem EU-Projekt eVIP. Das Ziel dieses Projekts ist es gemeinsam rund 320 Fälle in unterschiedlichen Disziplinen auf Basis eines festgesetzten Standards zu erstellen. Alle Projektpartner haben Zugriff auf diese virtuellen Patientenfälle, die je nach Nationalität übersetzt und kulturell und entsprechend dem Studium angepasst werden.

Weiterhin kooperieren wir mit vielen einzelnen deutschen und auch ausländischen Universitäten. Wenn diese unsere Software einsetzen wollen, erwarten wir eine gewisse Support-Gebühr an uns zu entrichten. Zudem können die Partner wählen ob Sie auch die bereits erstellten Fälle kostenfrei nutzen wollen, wenn Sie auch selbst Fälle beitragen oder auch eine Gebühr für die Fälle bezahlen wollen.

Weiterhin dehnen wir das Projekt auch auf den Einsatz in der ärztlichen Weiterbildung aus. Kürzlich wurden virtuelle Patienten im Rahmen eines Pädiatrie-Repititoriums der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin für angehende Fachärzte mit positiver Resonanz eingesetzt.

Wie wichtig ist die Einbindung der virtuellen Patientenfälle in das gesamte Curriculum?

Sören Huwendiek: Die Wissensmenge, die sich Studierende aneignen müssen, steig stetig. Je mehr das Wissen während des Studiums also praxisnah und systematisch in den richtigen Zusammenhang gestellt wird, desto eher besteht die Chance, dass es später in der Praxis wieder sinnvoll abrufbar ist.

Dabei ist es natürlich von großer Bedeutung, dass die Bearbeitung von Fallbeispielen sinnvoll in Lehre und Prüfung integriert wird. In der medizinischen Fakultät bedeutet dies, dass alle an der Lehre Beteiligten über die virtuellen Patienten Bescheid wissen und auf diese z.B. in ihren Vorlesungen hinweisen. Einige der virtuellen Patienten werden zudem im tutoriell betreuten Kleingruppenunterricht besprochen und zur Vorbereitung auf den Unterricht am Krankenbett und zur Vorbereitung auf das praktische Fertigkeitstraining eingesetzt. Damit sind die Studierenden dann sehr gut auf den Kontakt mit den realen Patienten vorbereitet.

In der Prüfungssituation selbst arbeiten wir mit Kurzfällen, in denen vor allem die Fähigkeit, die richtigen klinischen Entscheidungen zu treffen, überprüft wird. Dies erfolgt nicht mit Multiple-Choice-Fragen, sondern Freitextfragen. Diese können durch Zuhilfenahme von so genannten "langen Listen" auch computerisiert ausgewertet werden. Zudem wird gewährleistet, dass die Studieren das relevante Wissen wirklich parat haben und nicht im Ausschlussverfahren das richtige Ergebnis erraten.

Voraussetzung für die sinnvolle Einbindung in das gesamte Curriculum ist also ein breiter Konsens aller Lehrenden und Studierenden über die Vorteile dieser eLearning-Maßnahme.

Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir durch die enge Kooperation mit dem Studiengang Medizinische Informatik unser Projekt ständig auch hinsichtlich der Software weiterentwickeln können. Prof. Dr. Martin Haag vom Studiengang "Medizinischen Informatik" (Hochschule Heilbronn & Universität Heidelberg) leitet zusammen mit mir das Zentrum für virtuelle Patienten, wodurch wir auf ideale Weise die jeweilige Expertise nutzen können.