didacta 2020

"Digitalisierung ist eine Daueraufgabe"

Winfried KretschmannStuttgart, Februar 2020 - Lehrkräftemangel, schwankende Schülerleistungen und die Umsetzung der Digitalisierung – Schulen stehen deutschlandweit vor Herausforderungen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann berichtet, wie sich Baden-Württemberg bildungspolitisch aufstellt. 

Herr Ministerpräsident, vor welchen großen bildungspolitischen Herausforderungen steht Baden-Württemberg aktuell – und wie wollen Sie diesen begegnen?
Wilfried Kretschmann: Die zentrale Aufgabe der Bildungspolitik ist es, unsere Schülerinnen und Schüler zu einem glücklichen, erfüllten und selbstbestimmten Leben zu befähigen. Damit sie ihren Platz im Leben finden und auch beruflich erfolgreich sein können. Dazu brauchen wir ein leistungsfähiges Schulsystem mit passenden Bildungs- und Ausbildungsinhalten.
Das baden-württembergische Bildungssystem hat seine Leistungsfähigkeit über viele Jahrzehnte eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Baden-Württemberg ist heute in der EU unangefochten die Region mit dem höchsten Innovationspotenzial. Und wir konnten diesen Vorsprung zuletzt sogar weiter ausbauen. Wir wollen diese Top-Position langfristig erhalten und darum müssen unsere Schulen auch in Zukunft Spitzenleistungen erbringen.
Es stimmt, zuletzt haben wir eine ungünstige Entwicklung der Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler beobachten müssen, der wir aber sowohl strukturell als auch inhaltlich begegnen: durch die Gründung zweier Institutionen – dem Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung sowie dem Institut für Bildungsanalysen – auf der einen und durch die Stärkung der Fachlichkeit sowie die Einführung ganz neuer Bildungsangebote auf der anderen Seite.
Wir stärken auch die Fortbildung unserer Lehrerinnen und Lehrer, führen ein strategisches Bildungsmonitoring als Grundlage einer qualitätsvollen Schulentwicklung ein und bringen die Fächer Informatik sowie Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung an alle weiterführenden Schulen. Weitere große Herausforderungen sind die Digitalisierung, der Umgang mit Heterogenität und damit die Inklusion und individuelle Förderung.

 

Die Bildungsgewerkschaft GEW kritisiert, in Baden-Württemberg würden langfristig nicht genügend Lehrkräfte ausgebildet werden. 700 Stellen seien unbesetzt. Was entgegnen Sie?
Wilfried Kretschmann: In den vergangenen Jahren hatten wir mit Beginn des Unterrichts nach den Sommerferien noch nicht alle Stellen besetzen können. Diese Situation stellte uns dann jeweils vor Herausforderungen. Hauptursächlich dafür ist die hohe Zahl an Pensionierungen. Das Kultusministerium ist bemüht, dem Mangel durch kurzfristige Maßnahmen entgegenzuwirken.
Dazu gehören der Einsatz von ausgebildeten Gymnasiallehrkräften, die wegen des an dieser Schulart herrschenden Bewerberüberhangs keine Stelle finden konnten, an Grundschulen beziehungsweise Schulen der Sekundarstufe I. Weitere 1.700 im Dienst befindliche Lehrkräfte haben einen Antrag auf Erhöhung ihres Lehrerdeputats gestellt. Außerdem beschäftigen wir Pensionäre in befristeten Verträgen.
Diese und andere Maßnahmen haben uns geholfen, bestehende Lücken zu schließen. Mit diesen Herausforderungen haben wir noch ein paar Jahre zu kämpfen, langfristig gehen wir jedoch von einer positiveren Situation aus. Sowohl für das Lehramt an Grundschulen als auch in der Sonderpädagogik haben wir die Zahl der Studienplätze schon ausgebaut. Zudem hat die Pensionierungswelle ihren Höhepunkt bereits überschritten. Um mehr junge Menschen für Fächer zu begeistern, in denen ein besonderer Mangel besteht, werben wir durch das Wissenschaftsministerium beispielsweise mit der Kampagne #lieberlehramt.

 

Wie fördern Sie die Digitalisierung an baden-württembergischen Schulen?
Wilfried Kretschmann: Die Digitalisierung treiben wir in Baden-Württemberg insgesamt mit der Strategie digital@bw kräftig voran. Seit Anfang Oktober 2019 können baden-württembergische Schulträger Anträge stellen, um Gelder aus dem zwischen dem Bund und den Ländern beschlossenen "DigitalPakt Schule" zu beantragen. Die Schulträger haben so die notwendige Planungssicherheit, denn sie erhalten entsprechend ihrer jeweiligen Zahl an Schülerinnen und Schülern feste Budgets zugewiesen.
Von den 650 Millionen Euro, die das Land über den DigitalPakt erhält, sind 585 Millionen Euro für Investitionen an Schulen vorgesehen. Die restlichen Mittel sollen für landesweite und länderübergreifende Projekte verwendet werden. Insgesamt investieren wir massiv in die digitale Infrastruktur der Schulen in Baden-Württemberg. Denn zu den genannten Mitteln des DigitalPakts kommen noch weitere 150 Millionen Euro als Anschubfinanzierung hinzu, auf die sich das Land und die kommunale Seite verständigt haben.
Die Schulen sind nun aufgerufen, einen Medienentwicklungsplan vorzulegen, der zu ihrer jeweiligen Situation vor Ort passt und alle beteiligten Akteure mitnimmt. Die Voraussetzungen sind bei uns in Baden-Württemberg aber sehr günstig. Erst vor wenigen Jahren ist ein neuer Bildungsplan in Kraft getreten, der den gesamten Bildungskanon von der Einschulung bis zum Abitur und alle Schularten gleichermaßen umfasst.
Neben der Einführung des Fachs Informatik an allen weiterführenden Schulen ist dabei auch die Verankerung von sogenannten Leitperspektiven eine neue Maßnahme. Zu ihnen zählt natürlich auch die Digitalisierung in ihrer ganzen Bandbreite – von der Medienanalyse über den Jugendmedienschutz bis hin zu den informationstechnischen Grundlagen.
Das besondere an diesen Leitperspektiven ist, dass sie vom Ansatz her in allen Unterrichtsfächern und in allen Altersstufen verankert wurden. Dies sind wesentliche Grundlagen, auf denen unsere Schulen bei der Entwicklung ihrer pädagogischen Konzeptionen aufbauen.

 

Kaum steht der Digitalpakt, schon wird der Ruf nach einem "Digitalpakt 2.0" laut: mit Lehreraus- und -fortbildung, Budgets für digitalen Content und Bildungsmedien, Administration und Wartung. Wie beurteilen Sie diese Idee?
Wilfried Kretschmann: Diese Inhalte sind bei der Umsetzung des DigitalPakts in Baden-Württemberg mitgedacht. Denn schon vor der Beantragung von Mitteln müssen die Schulen mehrere Bedingungen erfüllen: Zum einen muss der Schulträger ein technisches Konzept über die Sicherstellung von Betrieb, Wartung und IT-Support vorlegen und zum anderen ein pädagogisches Konzept zum Einsatz der digitalen Technik – den schon erwähnten Medienentwicklungsplan, der selbstverständlich auch ein Fortbildungskonzept für die Lehrkräfte einschließt. Denn mit der Bereitstellung der Technik allein ist es natürlich nicht getan.
Was aber in der öffentlichen Diskussion um den DigitalPakt stets zu kurz kommt: Die Digitalisierung ist eine Daueraufgabe. Und sie wird es auch bleiben. Der DigitalPakt ist jedoch befristet, die Mittel des Bundes fließen ganze fünf Jahre. Der DigitalPakt ist damit zu einem besonders markanten Beispiel dafür geworden, dass der Bund den Ländern für unbefristete Aufgaben oft nur zeitlich befristete Programmtitel gewährt, die dann auch noch mit Steuerungs- und Kontrollrechten zugunsten des Bundes verbunden werden.
Der vom Grundgesetz dafür vorgesehene Weg ist jedoch der, dass die Länder einen dauerhaften Anspruch auf einen aufgabengerechten Anteil am Steueraufkommen als eigene Finanzmittel haben. Dieser Weg wurde in den letzten Jahren jedoch zu selten verfolgt. Bei der Ministerpräsidentenkonferenz am 24./25. Oktober 2019 waren sich alle Länder einig, dass wir hier endlich gegensteuern müssen.

 

Die weltweit größte Bildungsmesse didacta ist in Stuttgart zu Gast. Mit welchen Worten möchten Sie Lehrkräfte zum Messebesuch einladen?
Wilfried Kretschmann: Die didacta ist eine hervorragende Plattform, um zu diskutieren und sich gegenseitig anzuregen. Als eine große Fachmesse gibt die didacta Einblicke in das gesamte Bildungswesen – von der frühkindlichen Erziehung über die schulische und berufliche Bildung bis hin zum lebenslangen Lernen. Ein Fortbildungsprogramm für Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher und Ausbilderinnen und Ausbilder ergänzt das Angebot dieser vielseitigen Ausstellung.
Hochrangige Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft sowie viele Prominente werden in Stuttgart auch in diesem Jahr über aktuelle Fragen der Bildungspolitik sprechen, über Lösungsansätze informieren, Konzepte vorstellen und der Frage nachgehen, wie das Bildungssystem entsprechend den aktuellen und künftigen Bedürfnissen weiterentwickelt werden kann. Alle Lehrerinnen und Lehrer lade ich daher herzlich zur didacta ein, damit sie von den wertvollen Impulsen und ertragreichen Ergebnissen des Bildungskongresses profitieren können!

 

Vom 24. bis 28. März 2020 führt die didacta als weltweit größte und Deutschlands wichtigste Bildungsmesse wieder Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in Stuttgart zusammen.