Wissensmanagement 2.0

Revolution im Unternehmensalltag

Stuttgart, Juni 2008 - "Der Einsatz von Web 2.0-Technologien ist dabei das Wissensmanagement zu revolutionieren", glaubt Dr. Peter Schütt, Leiter für Knowledge Management & Social Networking der IBM Deutschland GmbH. Er prognostiziert, dass in naher Zukunft im Unternehmen jeder Mitarbeiter wesentlich unkontrollierter publizieren kann, Qualität immer häufiger allein durch die "Intelligenz der Masse" sichergestellt wird und Communities wie Ökosysteme thematisch Wissen hervorbringen werden.




Warum sehen Sie den Einsatz von Web 2.0-Technologien als einen der wesentlichen Trends im Wissensmanagement der nächsten Jahren?
Dr. Peter Schütt:
Heute denken erst wenige Unternehmen über den Einsatz von Web 2.0-Technologien nach - manchmal im Kontakt zu Kunden, aber bisher sehr selten in der internen Nutzung. Doch schon in fünf Jahren wird dieses an der Tagesordnung sein. Web 2.0-Technologien werden intern wie extern die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch mit Kollegen, Partnern, Lieferanten und Kunden verändern und erleichtern und beschleunigen.

Beziehungsnetze werden immer wichtiger, denn immer mehr Firmen, auch kleinere Unternehmen, agieren global. Man muss sich also genau überlegen, wie man die Mitarbeiter in der modernen Arbeitswelt klug miteinander vernetzt. Da reicht es einfach nicht mehr, wenn man in der Mittagspause Erfahrungen mit Kollegen austauscht. Jeder Mitarbeiter muss auf Wissensträger zugreifen können, die irgendwo in diesem Unternehmensverband, bei Partnerunternehmen oder in persönlichen Netzwerken sitzen.

Und Web 2.0 bietet zum ersten Mal die Möglichkeit an das lange Ende ("Long Tail") des Wissens im Unternehmen zu relativ kostengünstigen Kosten heranzukommen. Dieses lange Ende bilden die vielen kleinen Informationsbausteine, die bisher nur zufällig, etwa in der Kaffeeecke, ausgetauscht wurden. Sie sind für andere Kollegen und Partner bisher nicht zugänglich, weswegen muss das Rad im Detail allzu oft immer wieder neu erfunden werden.

Wie gut das "lange Ende" funktioniert sieht man etwa am Beispiel des Buchhandels. Obgleich ein typischer Buchhändler Tag und Nacht Bücher liest, kann er seine Kunden nur zu den am häufigsten verkauften Büchern eine Beratung bieten. Amazon.com ist mit einem anderen Modell an den Markt gegangen: Hier schreiben die Kunden, ohne dafür eine Entlohnung zu bekommen, Rezensionen auch zu Büchern, die nur selten verkauft werden, sich also im langen Ende des Angebots befinden. Amazon kann somit auch zu solchen Büchern eine Beratungsleistung bieten. Das differenziert und mittlerweile macht Amazon schon mehr als zwei Drittel seines Umsatzes in diesem langen Ende.

Die Inhalte, die wir privat in Web 2.0 Angeboten erleben, unterscheiden sich allerdings massiv von denen, die wir in unserem beruflichen Alltag in Unternehmen benötigen. Sind es im privaten Bereich oft Meinungen und Empfindungen, Photos von den Lieben und ähnliches, so müssen es im Betrieb Dinge sein, die im Arbeitsalltag helfen. Dabei handelt es sich üblicherweise um Projekterfahrungen von Kollegen, Newsletter etc., aber auch Dinge, auf die niemand sofort kommt:

Ein gutes Beispiel ist ein Schichtleiterprotokoll, das nicht mehr per eMail, sondern per Blog weitergegeben wird. Dazu kommt der Aspekt der Sicherheit. Im offenen Internet gibt es praktisch keine Sicherheit, während sich Unternehmen, die Mechanismen des Web 2.0 nutzen wollen, darauf verlassen können müssen, dass ihre Informationen nicht öffentlich zugänglich werden. Kein Unternehmen würde der Konkurrenz Zugang zur Kommunikation der Forschungs- und Entwicklungsabteilung geben wollen.

Welche Auswirkungen hat Ihrer Meinung nach das Wissensmanagement 2.0 auf das Innovationspotenzial in Unternehmen und damit auf die Sicherung des Standorts Deutschland?


Dr. Peter Schütt: In den letzten Jahren stand das Thema Kosten im Vordergrund. Jetzt nimmt, durch den Druck, der durch die Globalisierung entstanden ist, die Bedeutung von Innovationen insbesondere in den Industrieländern drastisch zu. Ein effektives Management des intellektuellen Kapitals und damit auch der Patente wird immer mehr zum kritischen Erfolgsfaktor. Wer als Unternehmen auch in der Zukunft erfolgreich sein will, muss das "Wissen der Massen" also der Mitarbeiter, Partner, Lieferanten und vor allem der Kunden möglichst effektiv nutzen - gerade auch im Hinblick auf neue Ideen für Produkte und Prozesse.

Wir haben eine weltweite Studie mit 750 Unternehmensleitern durchgeführt, unter anderem um herauszufinden, wo heute Innovationen herkommen. Die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen nahmen dabei nur Platz 6 ein. Auf Platz 1 standen die Mitarbeiter, die die zündenden Ideen hatten und auf Platz 2 die Kunden. Damit wird deutlich, wie wichtig die Unternehmensleiter kollaborative Innovationen als Zukunftsmotor nehmen. Das ist gerade auch für den Hochtechnologiestandort Deutschland besonders wichtig, wird hier aber offenbar noch stark unterschätzt.

Bei IBM haben wir zum Beispiel daraufhin das betriebliche Vorschlagswesen komplett verändert. Heute muss ein Mitarbeiter seine Ideen zunächst firmenintern veröffentlichen. Er braucht eine bestimmte Zahl an Kommentaren, die seine Idee unterstützen, bevor sie überhaupt weiter geprüft wird. Der Hintergedanke dabei ist, dass sich andere Experten damit befassen, was gleich Verbesserungen zu der Idee hervorruft oder noch weitere Ideen auslöst, bevor das Ganze in den klassischen Vorschlagsprozess einmündet.

Wie müssen die Oberflächen der Anwendungen künftig aussehen, um ein Wissensmanagement besser zu unterstützen?


Dr. Peter Schütt: Das Paradigma der grafischen Arbeitsoberflächen hat sich in den letzten 20 Jahren nicht nennenswert verändert. Durch immer mehr Anwendungen ist das Arbeiten damit immer komplexer geworden und der Vorteil stetig wachsender Leistung der Hardware kommt nicht bei der Produktivität der damit Arbeitenden an.

Hier muss ein neues Prinzip her, dass Anwendungen als eine Kombination von Services versteht, die Daten aus Serversystemen im Backend oder dem Internet besorgen. Solche Anwendungen sind dann so genannte Mashups in einer serviceorientierten Architektur (SOA). Als Trägersysteme empfehlen sich entweder Portallösungen wie IBM WebSphere Portal 6.1, wenn man als Unternehmen viel Kontrolle behalten möchte oder das Lotus Mashup Center, das noch mehr Freiraum für die Nutzer lässt.

Will man Services auch offline oder unter schlechten Netzanbindungsbedingungen nutzen, dann helfen dabei Rich Client Lösungen, wie Lotus Notes. Notes Domino 8 ermöglicht solche Mashups, bietet aber von Haus aus auch diverse andere Web 2.0 Werkzeuge, wie Blogs, Feedreader und Wikis (über Partnerlösungen) und erfüllt dabei auch höchste Anforderungen an die Sicherheit.

Damit ist ein wesentlicher Gedanke des Web 2.0 erfüllt: Menschen können ihre mit Vorliebe genutzten Anwendungen so kombinieren, wie es ihrer eigenen Arbeitsweise und ihrer Vorstellung von Zusammenarbeit entspricht. Diese Freiheit ist innovativ.

Was ist der Unterschied zwischen herkömmlichem Wissensmanagement und dem der Generation 2.0?


Dr. Peter Schütt: Der Unterschied liegt im Freigabeverfahren für Informationen und hat viel mit mehr Vertrauen gegenüber den Mitarbeitern zu tun. Bisher kontrollierte immer ein Webmaster oder ein fachlicher Experte, was (intern) veröffentlicht werden durfte. Wenn dann trotzdem noch ein Fehler drin war, hat die Schwarmintelligenz der Leser zugeschlagen.

Heute verkürzt man in vielen Bereichen solche Prozesse und lässt Mitarbeiter unmittelbar publizieren, etwa in ihrem Blog, in dem sie nützliche Tipps für Kollegen veröffentlichen. Somit wird viel mehr Information dokumentiert, denn die Motivationsbremse durch die nun nicht mehr vorhandene Eingangsschwelle der Kontrolle verschwindet. So wird plötzlich auch Information publiziert, die vielleicht nur für eine Handvoll der 380.000 Mitarbeiter der IBM relevant ist - aber vielleicht für sie von besonderer Wichtigkeit ist. Und Nischenwissen wird transparenter und geht seltener verloren, auch wenn Mitarbeiter wechseln.

Natürlich geht das nicht in allen Bereichen. Rechtlich relevante Informationen müssen auch weiterhin freigegeben sein. Aber gerade in Feldern, in denen es um Innovation geht, bestehen die rechtlichen Einschränkungen meistens nicht, sodass auch Unternehmen wie Versicherungen etc. solche Web 2.0 Möglichkeiten sehr sinnvoll intern und mit ihren Kunden einsetzen können.

Wie lassen sich die richtigen Informationen in der Fülle des Angebots dann überhaupt noch finden?


Dr. Peter Schütt: Mit immer mehr dokumentierter Information wird es dann natürlich auch schwieriger die richtigen Dinge zu finden. Hier hilft, dass die Suche im Unternehmen gerade vor einer Revolution steht. Was Google für das Internet erfunden hatte, nämlich aus der Verlinkung die Relevanz herauszurechnen, funktioniert großartig im offenen Internet. Informationen in Unternehmen sind aber wesentlich weniger verlinkt und oft auch durch Sicherheitsschwellen abgeschottet, sodass die Anforderungen ungleich höher sind und das Prinzip aus dem Internet weitgehend versagt.

Die Revolution hat einen Namen und heißt "Social Tagging". Jeglicher Content, ob Blogeinträge, eMails, abgelegte Dokumente oder sogar Kollegen, also Personen, können mit Tags ("Schlüsselworte") versehen werden. Diese Tags sind eine hervorragende Ausgangsbasis für wesentlich bessere Suchergebnisse von Suchmaschinen, wie sie IBM bereits anbietet und nutzt. Das wird der Quantensprung im Thema Suche in Unternehmen.

Wird Wissensmanagement auf diese Weise endlich auch für KMU bezahlbar?


Dr. Peter Schütt: Ja, wobei die Spannweite der Möglichkeiten auch für KMUs natürlich sehr groß ist. Es gibt bereits kleine und mittlere Unternehmen, die zum Beispiel ihr Intranet auf ein Wiki umgestellt haben. In dem Wiki kann dann jeder Mitarbeiter alles editieren. Die Qualität der Beiträge wird dabei anhand des Logs im Nachgang vom Webmaster oder auch dem Chef selbst überprüft. Die Praxis zeigt, dass Mitarbeiter damit verantwortungsvoll umgehen und nachträgliche Änderungen eher selten sind.

Das Ganze ist aber noch sehr stark in den Anfängen und es gibt im Moment nur wenige Unternehmen, die diese Web 2.0-Technologien intern schon aktiv nutzen. Dabei muss man schauen, welche Web 2.0 Werkzeuge bei den vorhandenen Prozessen wirklich Sinn machen.

Wikis sind hier oft überschätzt, weil sie auch leicht zu Informationschaos führen können. Ihre Domäne sind entweder langlebige Information, wie bei Wikipedia oder komplexe Teamarbeiten, wie etwa ein komplexes Dokument. Blogs haben den Vorteil, dass neue Information klar erkennbar ist - sie steht immer oben.

Den Wert einer solchen Nutzung hat beispielsweise ein Automobilunternehmen mit einem Schichtleiter-Blog in der Produktion erkannt. Zuvor wurde das Protokoll der Schicht dem nächsten Schichtleiter per eMail zugeschickt. War der Nachfolger aber z.B. unerwartet erkrankt, hatte sein Vertreter keinen Zugriff auf die eMail. Es erwies sich als viel sinnvoller, einen gemeinsamen Blog zu etablieren. Auf diese Weise können die Schichtleiter nun sogar -žTags-œ zu wichtigen Einträgen hinzufügen und darüber aufkommende Probleme eher erkennen und auch über Tage zurückverfolgen, was in den Schichten zuvor passiert war.

Für viele mag es erst einmal ungewöhnlich sein solche Technologien, die ursprünglich aus dem öffentlichen Internet stammen, für unternehmensinterne Prozesse einzusetzen, doch die Technologie macht Sinn und spart Kosten, wobei sich die genutzten Inhalte in den Unternehmen eben stark von denen im öffentlichen, privat genutzten Internet unterscheiden.

Ich bin überzeugt davon, dass sich gerade der Mittelstand mit der Web 2.0 Technologie Wettbewerbsvorteile verschaffen kann, aber wie so oft gilt das hauptsächlich für die "Early Adopters", die schon bald damit beginnen. Bei sehr kleinen Unternehmen empfiehlt es sich, diese Herausforderung eher im Verbund anzugehen, etwa gefördert über die IHKs oder andere Verbände.

Weitere Informationen zum Thema Wissensmanagement mit Web 2.0-Technolgien können Sie der Keynote von Dr. Peter Schütt auf der re:publica 2008 entnehmen.