Extremsituationen

In virtuellen Welten neue Kompetenzen vermitteln

Jennifer FritzDaniel SotzkoSaarbrücken, Juni 2018   (von Jennifer Fritz und Daniel Sotzko, IMC AG) Durch die Brille wirkt die virtuelle Nachbildung des Reaktors täuschend echt. Vier junge Techniker trainieren hier gleichzeitig für den Ernstfall. Simuliert wird ein schwerer Störfall, im Zuge dessen es zu Ausfällen an einzelnen Maschinen kommt. Eine Situation, die selbst im Simulationsspiel für die Teilnehmer puren Stress bedeutet. Jede Bewegung der Trainingsteilnehmer muss sitzen, denn über Sensoren werden ihre Bewegungen im Raum getrackt und in die virtuelle Welt übertragen. 

Damit ist ihr Vorgehen auch für die anderen Teilnehmer sichtbar und es kann virtuell, im Team, daran gearbeitet werden, blitzschnell Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen und in Einzelfällen erste Hilfe zu leisten. In diesem Szenario wird ganz und gar virtuell gelernt, das heißt, die reale Welt wird vollständig ausgeblendet und durch ein digitales Pendant (Virtual Reality) ersetzt.

Der Vorteil liegt auf der Hand: Unter den Trainingsteilnehmern entsteht ein authentischer Eindruck einer "Extremsituation", die hohe Konzentration, Handlungskompetenz und Teamwork erfordert – genau wie bei einem echten Worst-Case-Szenario. So erhalten die Techniker in der Ausbildung die Möglichkeit, die Bewegungen und Absprachen zu trainieren, die im Falle einer Extremsituation sofort abrufbar sein müssen. Auch wenn sich ein solcher GAU (Größter anzunehmender Unfall) hoffentlich niemals ereignen wird, müssen Mitarbeiter in jedem Fall mit geeigneten Trainings körperlich und mental darauf vorbereitet werden.

Derzeit ist noch viel Luft nach oben, was den Einsatz von VR und insbesondere VR-Learning angeht. Zahlreiche junge Start-ups entwickeln die ersten Prototypen im Bereich virtuelle Realität, angestammte Betriebe beginnen, VR-Anwendungen für ihre Organisation zur Schulung interner und externer Zielgruppen oder für Marketingzwecke zu nutzen und selbst klassische Lehrbuchverlage wagen sich an das Thema, um herauszufinden, was VR-Learning für sie hergibt. Lernende setzen sich nicht nur lieber mit Trainingsinhalten auseinander, die über VR-Formate vermittelt werden, sondern können sich durch die Intensität, Authentizität und Emotionalität des Trainingserlebnisses nach Abschluss der Lerneinheiten auch länger und besser an das Gelernte erinnern.
Auch die für VR-Learning notwendige Technik ist inzwischen mit hochwertigen VR-Brillen nicht nur vorhanden, sondern auch marktreif und damit erschwinglich geworden. Zwar wurden bereits in den 90er Jahren Versuche unternommen, VR markttauglich zu machen, allerdings waren damals weder die Displays noch die Sensoren auf dem notwendigen technischen Stand und auch die PCs waren noch nicht leistungsstark genug. Getrieben durch die rasante Entwicklung von Rechenleistung bei Prozessoren und 3D-Renderern zur Bildsynthese beziehungsweise bei Grafikkarten sind diese Technologien heute gut nutzbar.

In den meisten VR-Setups sind inzwischen diverse Sensoren verbaut, die die Beschleunigung oder Blickrichtung messen. Hochentwickelte Tracking-Systeme registrieren die Körperbewegungen des Nutzers wie beispielsweise ein sich nach vorne oder zur Seite Beugen oder Hand- und Greifbewegungen und übertragen diese in die virtuelle Welt. Je präziser das Tracking abläuft, desto authentischer wird die VR-Erfahrung für den Gast aus der realen Welt.

Es wird davon ausgegangen, dass im Bereich Tracking in den kommenden Jahren die größten Entwicklungssprünge zu erwarten sind, da sich der Stand der Technologie noch in einem frühen Stadium befindet. Doch wie lässt sich VR-Learning am besten in die unternehmenseigene Weiterbildungsarchitektur integrieren?

 

Mögliche Roadmap zur Einführung von VR-Learning in Unternehmen

Selbstverständlich sind die Weiterbildungsszenarien für VR-Learning von Unternehmen zu Unternehmen verschieden. Dennoch existieren eine Handvoll Einführungsschritte, die jeder Organisation bei der Einführung von VR-Learning als Orientierung dienen können.

 

Prüfung des Szenarios

Als erstes sollte die Organisation gemeinsam mit einem VR-Experten, einem Weiterbildungsdienstleiter mit Erfahrung im Bereich VR oder einem Start-up, der das Virtual Reality-Konzepte umsetzt und betreut, prüfen, ob sich das anvisierte Weiterbildungsszenario überhaupt für VR-Learning eignet.

Gegebenenfalls stellt sich im Gespräch mit dem Experten heraus, dass ein Augmented-Reality Format für das vorgeschlagene Szenario passender und kostengünstiger ist. Eignet sich das vorgestellte Szenario für VR, sollten die zu trainierenden Abläufe genauestens analysiert, eventuell auch vorher abgefilmt werden, wie zum Beispiel bei Prozessen an der Maschine, um sie später in der virtuellen Welt so realitätsnah wie möglich darstellen zu können.

 

Konzeptentwicklung und Aufbau von Kompetenzen

Im zweiten Schritt wird das Trainingskonzept entwickelt. Dabei ist unbedingt darauf zu achten, jemanden aus dem Unternehmen mit einzubeziehen, der bestens mit den gezeigten Abläufen vertraut ist, sowie eine zweite Person, die sich sehr gut mit der (Lern-)Technologie auskennt. Im Idealfall gibt es im Unternehmen sogar bereits eine dritte Person, die das Konzept von Unternehmensseite ganzheitlich betreuen kann und in der Lage ist einzugreifen, falls es zu Missverständnissen zwischen Technikexperten und Weiterbildungsprofis kommt.

Gibt es noch keinen Experten im Unternehmen der diese Kompetenzen mitbringt, so sind diese einer geeigneten Person zu vermitteln. Dieser VR-Experte wird später auch in der Lage sein, die Trainings zu koordinieren beziehungsweise den Nutzern den Umgang mit der Technik näherzubringen.

 

Testphase vor dem Rollout

Bevor die ersten Nutzer das Training austesten, durchläuft der VR-Experte beziehungsweise künftige Trainingsleiter alle Module und macht sich eingehend mit dem Aufbau des Trainings und der Technik vertraut. Falls er dabei Fehler oder Schwachpunkte bemerkt, können diese noch ausgebessert werden.

 

Vorbereitung der Teilnehmer

In den meisten Organisationen gibt es Trainingsteilnehmer, die noch nie mit VR-Formaten in Berührung gekommen sind. Um diesen Mitarbeitern den Einstieg ins Training zu erleichtern, kann das Unternehmen beispielsweise Cardboards verteilen, über die ein 360° Trailer gezeigt wird. Darüber hinaus sollten für Neueinsteiger unbedingt kurze Einführungsworkshops stattfinden, in denen auch zur Sprache kommt, warum der jeweilige Inhalt über VR vermittelt wird. Unternehmen, die VR einführen, haben in jedem Fall die Möglichkeit, VR-affine Mitarbeiter als Botschafter zu gewinnen, die weniger erfahrende Kollegen an die Technik heranführen und ihnen den Mehrwert von Trainings im virtuellen Raum näherbringen.

 

Rollout

Nun wird das Training eingeführt. Nachdem es die ersten Nutzer getestet haben wird anhand des Nutzerfeedbacks abgefragt, wie die Nutzer das Training erlebt haben und von welchen Kompetenzen sie nun meinen, sie sicher zu beherrschen.

 

Evaluation

Einige Zeit nach Durchführung der Trainings wird bei einer Testgruppe evaluiert, wie gut die Teilnehmer die im Rahmen des Trainings erworbenen Kompetenzen noch beherrschen. Über Fragebögen werden die Teilnehmer gebeten, Verbesserungsvorschläge abzugeben, die bei der Planung des nächsten Trainings berücksichtigt werden können.