KAMAELEON

"Lernziele sind nicht fix gesetzt, sondern dynamischer Natur"

Prof. Dr. Dirk IfenthalerMannheim, August 2022 – Über "Kontaktbasierte und adaptive Maßnahmen für effektive Lernunterstützung in der Weiterbildung" hat Prof. Dr. Dirk Ifenthaler vielfach gesprochen. Im Rahmen des Projekts KAMAELEON ist er daran beteiligt KI-basierte Personalisierungsansätze für die betriebliche Weiterbildung zu entwickeln und zu evaluieren. Dabei funktionieren personalisierte und adaptive Lernumgebungen seines Erachtens nach den gleichen Prinzipien wie Online-Shopping-Plattformen und Streaming-Portale.

In welchem Zusammenhang stehen personalisierte und adaptive Lernumgebungen in Bezug auf Studien- und Lernerfolg? 

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Forschungsbefunde zu personalisierten und adaptiven Lernumgebungen liegen hauptsächlich im Kontext der Hochschule vor. In einer kürzlich veröffentlichten Metastudie aus meiner Forschendengruppe (Ifenthaler & Yau, 2020) konnten aus über 6,000 Studien Faktoren im Zusammenhang zwischen personalisierte und adaptive Lernumgebungen sowie Lernerfolg identifiziert werden. Die Befunde zeigen, dass analytics-basierte Ansätze vordergründig als datengestützte Methoden zur Erkennung von Risikosituationen in Verbindung mit Lernerfolg eingesetzt werden.
Jedoch konnten nur wenige effektive pädagogische Interventionsstrategien in Verbindung mit Lernerfolg identifiziert werden. Auch ist eine flächendeckende Implementierung solcher Systeme noch nicht zu erkennen. Hier besteht folglich ein hoher Forschungs- und Implementierungsbedarf an den Hochschulen. Im Bereich der beruflichen Bildung liegen bislang nur unzureichende Befunde hinsichtlich der Wirksamkeit und Implementation personalisierter und adaptiver Lernumgebungen vor.

Sie sind seit rund einem Jahr an dem geförderten Projekt KAMAELEON maßgeblich beteiligt, in dem Sie die Individualisierung von Lernangeboten weiterentwickeln. Lassen sich Ihre Erkenntnisse aus der Universitätslehre dabei auf die berufliche Bildung übertragen?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Indirekt können unsere Erkenntnisse aus der Hochschulforschung in die Projektarbeit von KAMAELEON (Kontext­basierte und adaptive Maßnahmen für effektive Lern­unterstützung in der Online-Weiterbildung) einfließen. Ziel des Projektes ist es, mittels der edyoucated-Lernplattform KI-basierte Personalisierungsansätze für die betriebliche Weiterbildung zu entwickeln und zu evaluieren. Hierbei sollen zwei Faktorgruppen detaillierter erforscht werden: 1. das Lernumfeld der Lernenden und 2. die dynamischen Lernziele in Weiterbildungsprozessen.
Die entwickelten KI-basierten Personalisierungsansätze werden in einem nächsten Schritt iterativ in Modellversuchen mit mehreren Weiterbildungsangeboten aus unterschiedlichen Branchen evaluiert werden. Dabei sollen übertragbare Bedingungen der nachhaltigen Implementierung (d. h. kritische Erfolgsfaktoren und Hürden) identifiziert werden.

Gibt es bereits neue Erkenntnisse aus KAMAELEON bezüglich des Einsatzes Künstlicher Intelligenz?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Unsere Analysen zeigen, dass obwohl digitale Medien und Technologien in der betrieblichen Weiterbildung immer mehr Einsatz finden, stehen Online-Weiterbildungsangebote häufig nur als statisches Gesamtpaket zur Verfügung und ahmen damit die "One-size-fits-all"-Strategie von traditionellen Präsenzschulungen nach. Sowohl personalisiertes als auch adaptives Lernen zielen auf eine Unterstützung der Lernerfahrung durch Anpassung an die aktuelle Situation der Lernenden ab.
Während die Definition für personalisiertes Lernen dabei einen Fokus auf individuelle Merkmale der Lernenden legt, fokussiert adaptives Lernen auf die kontinuierliche Erhebung von Informationen und eine fortlaufende. Im Kontext KI-basierter Technologien verschwimmen jedoch die Grenzen zwischen personalisiertem und adaptivem Lernen. KI-basierte Technologien ermöglichen eine umfassende Erhebung und Analyse sowohl von statischen individuellen Merkmalen also auch von sich ständig verändernden Informationen und vereinen damit personalisiertes und adaptives Lernen.

Personalisierte und adaptive Lernumgebungen funktionieren nach dem gleichen Prinzip wie Online-Shopping-Plattformen und Streaming-Portale. Nach demselben Prinzip sammeln personalisierte und adaptive Lernumgebungen riesige Mengen an Bildungsdaten, um Lernverhalten zu analysieren und das Lernangebot automatisch an die individuelle Situation der Lernenden anzupassen.
Die Anwendungsmöglichkeiten und Funktionen von personalisierten und adaptiven Lernumgebungen sind vielseitig. So können beispielweise Lerninhalte und Lernmaterialien wie spezielle Übungen, Videos oder Texte an die jeweiligen Interessen und Präferenzen sowie den aktuellen Wissenstand der Lernenden angepasst werden. Personalisierte Nutzeroberflächen, adaptives Feedback sowie personalisierte Lernpfade und Lernzielempfehlungen, angepasst an die jeweiligen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Lernenden, stellen weitere mögliche Funktionen personalisierter und adaptiver Lernumgebungen dar.

Ein Potenzial personalisierter und adaptiver Lernumgebungen liegt darüber hinaus in der Unterstützung von informellem Lernen am Arbeitsplatz. Im Arbeitskontext ist Lernen nicht nur auf formale Weiterbildungsangebote begrenzt, sondern findet häufig auf informellem Wege direkt während der Arbeit statt. Wenn Arbeitnehmende Aufgaben bearbeiten, Probleme lösen oder mit Teammitgliedern interagieren, erweitern sie (häufig unbewusst) ihr Wissen und ihre Kompetenzen.
Wenn Arbeitnehmende bei der Bearbeitung einer Aufgabe mit einem Problem konfrontiert werden, können personalisierte und adaptive Lernumgebungen beispielsweise Teammitglieder im Unternehmen vorschlagen, die mit diesem Problem bereits Erfahrungen gemacht haben und somit weiterhelfen können. Personalisierte und adaptive Lernumgebungen können Arbeitnehmende außerdem dazu anregen, über ihre Arbeitsleistungen und -ergebnisse zu reflektieren sowie Empfehlungen für Verbesserungen vorschlagen.

In wie weit lassen sich speziell dynamische Lernziele durch kontextbasierte Maßnahmen der Lernunterstützung unterstützen?

Prof. Dr. Dirk Ifenthaler: Im Projekt KAMAELEON gehen wir davon aus, dass Lernziele die gewünschte Ergebnisse oder Soll-Zustände sind, die Lernende in der Weiterbildung anstreben. Nach der Zielsetzungstheorie wirken sich Ziele positiv auf Leistung aus, in dem sie Aufmerksamkeit auf relevante Aufgaben lenken sowie Energie und Ausdauer erhöhen Empirische Studien sprechen für die Annahmen der Zielsetzungstheorie und zeigen, dass bestimmte Merkmale von Lernzielen (z. B. Zielbindung, intrinsisch definierte vs. extern gesetzte Ziele) sich unterschiedlich auf Lernerfolg und -leistung auswirken können.
Informationen über Lernziele sollten daher von personalisierten und adaptiven Lernumgebungen berücksichtig werden, um Lernprozesse und -erfolg zu unterstützen. Im Arbeitskontext können Lernziele dabei sowohl intrinsisch definiert (z. B. angestrebter Berufs- oder Positionswechsel, persönliche Weiterbildung) als auch extern gesetzt (z. B. Vorgaben durch Vorgesetzte, organisationale Anforderungen) sein. Aufgrund der ständig ändernden Arbeitsanforderungen sind Lernziele darüber hinaus nicht fix gesetzt, sondern dynamischer Natur und können sich im Laufe des Weiterbildungsprozesses ändern.

Aktuelle Erkenntnisse aus dem Projekt KAMAELEON zeigen, dass aufgrund von Heterogenität der aktuellen Wissensstände, individuell bevorzugter Lernstrategien als auch der dynamisch veränderlichen Lernziele der Lernenden sind herkömmliche Lernplattformen häufig nicht flexibel genug, um den individuellen Anforderungen der beruflichen Online-Weiterbildung gerecht zu werden. Ein Kernproblem beim Einsatz von KI in der Online-Weiterbildung ist die Kontextabhängigkeit, Fragmentierung und Verzerrung verfügbarer Daten.